Bundessozialgericht diskutiert nicht gerne - und missversteht Diskriminierung

08.03.2012 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Behindertenrecht, Recht Diskriminiert

Auf der Bahnfahrt konnte ich in "Bild" und "focus-online" schon lesen, worum es heute gehen würde: "Recht auf Erektion?"

Angesichts von falscher Weichenstellung der Bahn, eines Triebwerkschadens und eines ausgefallenen Zugs hatte ich reichlich Zeit mir die Verhandlung vorzustellen. Warum ich allerdings ausgerechnet von einer Krankenkasse das "Recht auf Erektion" fordern sollte, konnte ich in meinem fiktiven Plädoyer schlecht begründen.

Und tatsächlich ging es in dem Verfahren, das den langen Weg über die Nichtzulassungsbeschwerde nach Kassel genommen hatte, ja im Kern auch um eine Frage des Diskriminierungsrechts.

Stellt der Ausschluss des verschreibungspflichtigen Medikaments "Cialis" zur Behandlung der erektilen Dysfunktion aus dem Katalog der Leistungspflicht der GKV durch § 34 Abs 1 S. 7 und 8 SGB V nicht eine unzulässige mittelbare Benachteiligung von Menschen mit Behinderung dar?

Wenn nämlich Erkältungstropfen, Mittel zur Haarwuchsförderung, Appetitzügler und ein verschreibungspflichtiges Mittel zur Bekämpfung der erektilen Dysfunktion, das Menschen mit fortschreitenden Behinderungen wie Multipler Sklerose gleichem Recht unterliegen und alle nicht zu Lasten der Krankenkasse verordnet werden dürfen, ist das - so unsere Argumentation im Verfahren - eine ungerechtfertigte Gleichbehandlung von unterschiedlichen Sachverhalten dar.

Nun hat das Bundessozialgericht sich in anderen Konstellationen und unter anderen Fragestellungen schon mehrfach mit der Vorschrift und ihren Problemen befasst - und in eleganteren Formulierungen immer wieder darauf beharrt, dass der Gesetzgeber machen kann, was er will, wenn er Geld der Krankenkassen sparen will.

Dennoch hat der 1. Senat unsere Nichtzulassungsbeschwerde (knapp 30 Schriftsatz für den RVG-Wert von weniger als 500 EUR) gehört und die Revision zugelassen. Es gab also Anlass zu Skepsis und Grund zur Hoffnung.

Die mündliche Verhandlung machte gar nichts deutlich. Auf meinen Vortrag erwiderte die Beklagte knapp und routiniert mit Argumenten aus den vergangenen Rechtsstreitigkeiten. Die Richter stellten genau eine Nachfrage - und zogen sich dann für lange 20 Minuten zur Beratung zurück.

Anschließend blieb alles "im Namen des Volkes" beim alten - Revision zurückgewiesen. In der mündlichen Begründung durch den Präsidenten des BSG Peter Masuch gab es freundliche Worte über die Behindertenrechtskonvention, sowie ein paar Textbausteine aus alten Entscheidungen.

Warum es sich bei der von uns angegriffenen Regelung nicht um eine mittelbare Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen handeln soll, habe ich nicht verstanden.

Das BSG schreibt in seinem Terminsbericht: die Vorschrift knüpfe

"nicht an eine Behinderung an, sondern erfasst weitergehend im Vorfeld alle Fälle der Erkrankung oder Schwächung der Gesundheit, die in absehbarer Zeit voraussichtlich zu einer Krankheit führen."

Das ist wenig überzeugend, denn Haarausfall führt in absehbarer Zeit zu keiner Krankheit und die erektile Dysfunktion ist eine krankheitswertige Begleiterscheinung mancher Formen der Multiplen Sklerose.

Dass die Vorschrift nicht an einer Behinderung anknüpft ändert im Übrigen nichts daran, dass sie eine mittelbare Benachteiligung bewirkt: Eine Vorschrift, die verbietet Hunde zum Beispiel ins Konzert mitzunehmen knüpft auch nicht an eine Behinderung an, stellt gleichwohl aber eine Benachteiligung von blinden Menschen dar, die auf einen Blindenhund angewiesen sind und die ohne diesen nicht ins Konzert gehen können.

Aber ich will hier ja keine Urteilschelte betreiben, das hebe ich mir für die vielleicht zu erhebende Verfassungsbeschwerde auf. Ich wünsche mir nur, dass bei einer mündlichen Verhandlung die Richter des Bundessozialgerichts auch das machen, was für Sozialrichter in den unteren Instanzen üblich ist: Ihre Sicht der Dinge mitzuteilen und so ein Rechtsgespräch zu ermöglichen, dass diesen Namen verdient.

Aber offensichtlich sind die Richter des BSG der Auffassung, dass ein Rechtsgespräch mit Anwälten zu nichts führt. In der Tat: für Ihre Entscheidung ist es leichter nicht in eine echte Erörterung einzutreten. Aber eigentlich ist Rechtsfindung ein diskursorientiertes Unterfangen - und auch im Sozialgerichtsgesetz steht nicht, dass Bundesgerichte davon ausgenommen wären...

So sieht es die Ärztezeitung.

 

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