Bundesverfassungsgericht zu "Bundesnotbremse"
30.11.2021 | AutorIn: tolmein | menschenundrechte.de, Allgemein, Pressemitteilungen
Kanzlei Menschen und Rechte begrüßt die beiden Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts vom 30.11.2021 zu "Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen" und zu "Schulschließungen"
Die Kanzlei Menschen und Rechte begrüßt die beiden heute veröffentlichten Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts zur „Bundesnotbremse“ (einerseits: Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen als Maßnahmen zur Bekämpfung einer Pandemie; andererseits: Schulschließungen). Das Bundesverfassungsgericht hat hier in überzeugender Weise das Zusammenwirken von Freiheitsrechten der Einzelnen, Gestaltungsmöglichkeiten und auch Gestaltungserfordernissen des Gesetzgebers, sowie Schutzpflichten gegenüber den von der Pandemie in besonderer Weise betroffenen Menschen (in den vorliegenden Entscheidungen vor allem Kindern) unterstrichen.
Damit haben die Verfassungsrichter:innen deutlich gemacht, dass auch und gerade in einer extremen Notlage, wie sie durch die Pandemie entstanden ist, Freiheitsrechte in ihrem sozialen und gesellschaftlichen Kontext gesehen und bewertet werden müssen: sie gewinnen dadurch an Bedeutung, müssen aber auch gegen Grundrechte anderer abgewogen werden. Rechtsanwalt Prof. Dr. Oliver Tolmein: „Die Mitglieder einer inklusiven und diversen Gesellschaft, haben nicht immer und alle gleiche Interessen.“ Gerade in der Pandemie ist daher zu berücksichtigen, dass auch zentrale Grundrechte nicht schrankenlos gelten. Aber nicht nur die Bürgerinnen und Bürger stehen in der Pflicht. Rechtsanwalt Prof. Dr. Oliver Tolmein hebt aus der Entscheidung zu „Schulschließungen“ hervor, dass das Bundesverfassungsgericht auch dem Gesetzgeber Pflichten aufbürdet: „Das Bundesverfassungsgericht hat deutlich gemacht, dass der Gesetzgeber auch eine Pflicht zum Handeln haben kann, wenn die Nachteile und Gefahren, die aus gänzlich freier Grundrechtsausübung erwachsen können, besonders groß sind“ (1 BvR 971/21 ua., Rn 134 ). So eine Handlungspflicht ergibt sich nach Auffassung von Rechtsanwalt Prof. Dr. Oliver Tolmein aus der Triage, die heute in bedrohlicher Nähe erscheint: „Wir hoffen deswegen, dass das Bundesverfassungsgericht über die Verfassungsbeschwerde unserer Mandant:innen mit Behinderungen möglichst bald entscheidet und dem Gesetzgeber aufgeben wird, hier zu regeln, dass unsere Mandant:innen nicht durch die drohende Triage-Praxis, die durch kein Gesetz geregelt ist, auf tödliche Weise diskriminiert werden.“ Die Schutzpflichten, die das Grundgesetz durch Art 3 Abs 3 Satz 2 GG konstituiert, müssen gerade in so einer zentralen Frage konkrete Wirkung entfalten. Das gilt insbesondere auch, weil eine „stille Triage“ sich in Pflegeeinrichtungen längst ausgebreitet hat, wie sich durch eine Vielzahl von Einzelfällen, über die seit letztem Jahr in den Medien berichtet worden ist (vgl auch https://www.cbp.caritas.de/cms/contents/cbp.caritas.de/medien/dokumente/der-verband/angehoerigenbeirat/mitteilungen/triage-und-vortriage/2021-03-09_triage.pdf?d=a&f=pdf ), zeigt, aber auch aus den erhöhten Sterblichkeitszahlen in Pflegeeinrichtungen ergibt (https://www.aok-bv.de/imperia/md/aokbv/presse/pressemitteilungen/archiv/wido_pm_pflege_report_290621.pdf). Es ist aber auch deswegen bedeutend, weil die DIVI und andere medizinische Fachgesellschaften ihre Triage-Richtlinien gerade in einer überarbeiteten Fassung veröffentlicht haben und sich dabei auch in weiterem Umfang mit Triagekriterien befasst und insbesondere festgeschrieben haben, dass bei der Verteilung der knappen intensivmedizinischen Ressourcen nicht berücksichtigt werden soll, dass sich ein Patient bewusst und aus freien Stücken gegen eine Impfung entschieden hat.“Unabhängig davon, wie man diese Frage im Einzelnen beantworten möchte, ist es keine medizinische Fragestellung, wie die Gesellschaft hier Lasten und Risiken verteilen möchte. Hier müssen Politik und Gesellschaft entscheiden,“ fordert Rechtsanwalt Prof. Dr. Oliver Tolmein.
Einzelheiten über die Verfassungsbeschwerde zu Triage und deren Wortlaut finden Sie hier: