Jahresrückblick 2019 und Neujahrsgruß für 2020
01.01.2020 | | menschenundrechte.de, Aktuelles, Blog, Allgemein, Kanzlei Intern, Behindertenrecht, Recht Diskriminiert
Wir blicken auf ein ereignisreiches 2019 zurück.
Dieses Jahr stand in besonderem Maße im Zeichen genderpolitischer Entwicklungen, an denen insbesondere unsere Partnerin Rechtsanwältin Gabriela Lünsmann beteiligt war. In vielfachen Ausprägungen hat sie das Familienrecht für sogenannte Regenbogenfamilien, bei denen ein Familienmitglied lesbisch, schwul, trans-geschlechtlich ist, intensiv beschäftigt.
Wir haben eine große Zahl von Zwei-Mütter-Familien vertreten, die leider noch immer ein sogenannte Stiefkind-Adoptionsverfahren absolvieren müssen, bevor beide Frauen rechtliche Eltern ihres Kindes sein können. Ein großer Fortschritt für diese Familien wäre das neue Abstammungsrecht, das vom Bundesjustizministerium im März 2019 als Diskussionsentwurf vorgelegt worden ist. Rechtsanwältin Gabriela Lünsmann, die wieder in den Bundesvorstand des Lesben- und Schwulenverbandes (LSVD) gewählt worden ist, hat zu diesem Entwurf im Rahmen des Gesetzgebungsprozesses für ihren Verband Stellung genommen. Sie wird den LSVD in dieser Frage auch bei der Anhörung im Rechtsauschuss des Deutschen Bundestages als Sachverständige vertreten.
Das Familienrecht für nichttraditionelle Familien hat Rechtsanwältin Lünsmann im vergangenen Jahr auch in vielen Fortbildungsveranstaltungen für MitarbeiterInnen von Jugendämtern und Familienberatungsstellen beschäftigt.
Rechtsanwältin Lünsmann war auch Mitglied der Fachkommission des Bundesgesundheitsministeriums zum Verbot von Konversionstherapien, also von Behandlungen, die darauf abzielen, die sexuelle Orientierung oder selbstempfundene geschlechtliche Identität einer Person zu ändern oder zu unterdrücken. Im Dezember 2019 hat das Bundeskabinett nun eine gesetzliche Regelung verabschiedet, die solche Maßnahmen für Minderjährige ausdrücklich unter Strafe stellt und auch das Werben für solche Angebote, sowie deren Vermittlung verbietet.
Eine ganz andere familienrechtliche Frage hat uns in einem Verfahren vor dem Oberlandesgericht (OLG) Hamm beschäftigt: wir haben eine junge minderjährige Frau vertreten, die ihr Recht darauf geltend machen musste einen Schwangerschaftsabbruch nach einer Beratung durchführen zu können, obwohl die sorgeberechtigte Mutter sich vehement dagegen aussprach. Da das Verfahren eine starke medizinrechtliche Prägung hatte, kam es zu Rechtsanwalt Dr. Oliver Tolmein, der auf Grundlage seiner Kenntnisse der strafrechtlichen Rechtsprechung zur Wirksamkeit der Einwilligung Minderjähriger guten Mutes war – bis ihm auffiel, dass die familienrechtlichen Senate der OLGs hier weitgehend eine deutlich eltern-freundlichere Position vertraten. In dem unter hohem Zeitdruck betriebenen Hauptsacheverfahren verabschiedete sich das OLG Hamm nun unserer Beschwerdebegründung im Kern folgend von dieser Linie und arbeitete auf Basis des § 630d BGB eine klare und durchdachte Begründung für einen Abschied von der alten OLG-Linie heraus: die einwilligungsfähige minderjährige Beschwerdeführerin musste die Einwilligung der sorgeberechtigten Eltern weder einholen noch durch ein Familiengericht ersetzen lassen. Da sie einwilligungsfähig war, durfte sie auch allein entscheiden (OLG Hamm, Az.: II-12 UF 236/19 vom 29.11.2019).
Familienrecht für Eltern mit Behinderung
Auch 2019 gab es leider Mandate im Familienrecht, bei denen wir Eltern mit einer Behinderung vertreten mussten, denen aufgrund ihrer Behinderung Eingriffe in ihr Sorgerecht oder sogar der Sorgerechtsentzug drohten. Hier sehen wir es insbesondere als Aufgabe der anwaltlichen Vertretung, herauszuarbeiten, wie evtl. behinderungsbedingte Einschränkungen bei der Ausübung der elterlichen Sorge durch geeignete Assistenz kompensiert werden können. In einem Verfahren im November dieses Jahres musste wir für eine blinde Mandantin in Hamburg zunächst ihr Verfahrensrecht auf barrierefreien Zugang zu den Verfahrensunterlagen – im konkreten Fall zu einem umfangreichen Sachverständigengutachten – durchsetzen und konnten schließlich auch eine positive Entscheidung gegen den drohenden Sorgerechtsentzug erreichen (Amtsgericht Hamburg, 269 F 23/19). Dabei wurde deutlich, dass den Gerichten nach wie vor kaum bewusst ist, welche gesetzlichen Pflichten sie haben ihre Verfahren barrierefrei auszugestalten oder angemessene Vorkehrungen zu treffen, die Beteiligten mit Behinderungen gleichberechtigte Handlungsmöglichkeiten im Gerichtsverfahren sichern.
Behindertentestament
Auch 2019 waren Behindertentestamente weiter ein wichtiger Schwerpunkt in unserem erbrechtlichen Dezernat. Rechtsanwältin Gabriela Lünsmann hat in etlichen Fachvorträgen über die Bedeutung einer solchen erbrechtlichen Regelung von Eltern für ihre Kinder mit Behinderung aufgeklärt und zahlreiche Mandantinnen und Mandaten bei der erbrechtlichen Gestaltung beraten und vertreten.
Schwerbehindertenvertretungen und SGB 9
Schwerbehindertenvertretung trauen sich erfreulicherweise immer öfter, ihre Beteiligungsrechte aus dem SGB 9 auf Unterrichtung, auf Freistellung, auf Heranziehung stellvertretend gewählter Mitglieder, auf Schulung und auf angemessenen Raum- und Sachbedarf auch im arbeitsgerichtlichen Verfahren geltend zu machen. In diesem Jahr haben wir beispielsweise im Beschlussverfahren vor dem Arbeitsgericht Hamburg erfolgreich durchgesetzt (letztlich im Rahmen einer vergleichsweisen Einigung), dass die Schwerbehinderten-Vertrauensperson bei Abfassung der jährlichen Mitarbeiterbefragung zwingend zu beteiligen ist, wenn diese Bezüge zu den Themen Gesundheit und Belastbarkeit aufweist (Az.: 25 BV 27/18). Dieser Fall steht exemplarisch für viele Konstellationen, bei welchen die Gruppe der schwerbehinderten Beschäftigten im Sinne des § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB 9 in besonderem Maße betroffen ist, etwa bei Verhandlungen von Betriebsvereinbarungen zum Datenschutz, zu Bonuszahlungen, zur Einführung technischer Einrichtungen, zur Arbeitszeit, zum Mobilen Arbeiten oder zu den Meldepflichten im Krankheitsfall, aber im Entstehungsprozess nicht beteiligt wird. Die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber verweigern hier aber häufig die Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung mit dem pauschalen – und falschen - Hinweis, derartige Angelegenheiten beträfen doch alle Mitarbeiter*innen, und nicht die Gruppe der schwerbehinderten Beschäftigten speziell.
Individualarbeitsrecht
Im Individualarbeitsrecht lag ein Schwerpunkt in der Durchsetzung des Anspruchs auf angemessene Vorkehrung und behinderungsgerechte Beschäftigung (§ 164 SGB 9). Hier haben wir u.a. in einem Prozess vor dem Arbeitsgericht Hamburg – Arbeitgeber war eine Firma des Tchibo Konzerns – erfolgreich eingeklagt, dass unser psychisch erkrankter Mandant in einer „individuellen Sonderschicht“ (deren Beginn und Ende abweichend von allen üblichen Schichtzeiten liegen) arbeiten kann, auf die der Beschäftigte aus gesundheitlichen Gründen angewiesen ist (Arbeitsgericht Hamburg, Urteil vom 3.7.2019, 17 Ca 41/19).
Dieses Thema und alles rund um den besonderen Kündigungsschutz von Beschäftigten mit Behinderung hat Rechtsanwältin Dr. Babette Tondorf 2019 auch in zahlreichen Vorträgen in betrieblichen Versammlungen und Schulungen für Betriebsräte, Schwerbehinderten-vertretungen und MAVs aufgebarbeitet.
Gutachten zur Barrierefreiheit der Deutschen Bahn AG und anderer Bahnen
Angemessene Vorkehrungen und Barrierefreiheit waren auch zentrale Themen für Rechtsanwalt Dr. Oliver Tolmein, der für die Schlichtungsstelle nach § 16 BGG ein Gutachten ausarbeitete, das sich mit der Frage befasst, inwieweit der Bund und die Deutschen Bahn AG, sowie andere Eisenbahnen Barrierefreiheit des Schienenpersonenverkehrs und angemessene Vorkehrungen für die Passagiere mit Behinderungen wesentlich vorantreiben müssen.
Erfolge im Bereich des Persönlichen Budgets
Besonders gefreut hat uns, dass wir für unseren Mandanten Markus Igel in 2019 zwei substantielle Erfolge erzielen konnten, die sein selbstbestimmtes Leben mit Assistenz im Arbeitgebermodell vorerst, aber leider noch nicht auf Dauer gesichert haben. Das Bundesverfassungsgericht hat im März 2019 zum zweiten Mal in der Kette dieser Verfahren (vgl. unser Kanzleirundbrief aus dem letzten Jahr) eine Entscheidung des LSG Mainz wegen Verstoßes gegen das Gebot des effektiven Rechtsschutzes aufgehoben, die unserem Mandanten ohne nachvollziehbare Begründung im Eilverfahren keinen ausreichenden Betrag für sein Arbeitgebermodell zugesprochen hat (BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 14. März 2019,– 1 BvR 169/19) In diesem Verfassungsbeschwerdeverfahren hat uns erstmals die Gesellschaft für Freiheitsrechte e.V. unterstützt. Im Herbst hat dann das Sozialgericht Mainz die erste Entscheidung in der Hauptsache gefällt. Die Präsidentenkammer des Sozialgerichts hat uns in wesentlichen Fragen Recht gegeben (Sozialgericht Mainz, Urteil vom 21.08.2019, Az. S 1 SO 187/14). Insbesondere ist sie der Auffassung, dass Markus Igel nicht gezwungen werden kann, an die Stelle des durch ihn mit Hilfe eines Persönlichen Budgets selbstbestimmten Arbeitgebermodells eine Versorgung mit osteuropäischen Entsendekräften zu setzen. In einer wichtigen Frage allerdings hat das Sozialgericht anders entschieden, als wir es für richtig halten: es hält die ins Persönliche Budget einkalkulierten Kosten für die Budgetassistenz für deutlich zu hoch. Diese Rechtsauffassung ist angesichts der besonderen Einschränkungen unseres Mandanten nicht hinnehmbar – sie würde dazu führen, dass Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen auf Dauer keine hohen Budgets in Anspruch nehmen könnten. Deswegen sind wir gegen das Urteil in Berufung gegangen.
Ernennungen und Berufungen
Rechtsanwältin Gabriela Lünsmann wurde 2019 nicht nur erneut in den Bundesvorstand des LSVD gewählt, sondern auch erneut für 4 Jahre in das Kuratorium der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld berufen. Rechtsanwältin Dr. Babette Tondorf wurde für eine zweite Amtsperiode in den Vorstand des Hamburgischen Anwaltvereins (HAV e.V.) gewählt.
Wir bedanken uns bei unseren Mandantinnen und Mandanten, sowie den Vereinen, Verbänden und Organisationen, mit denen wir zusammenarbeiten für das in uns gesetzte Vertrauen und freuen uns auf 2020 mit Ihnen, das neue Herausforderungen bereithält, beispielsweise aufgrund des Inkrafttretens der neuen Regelungen zur Eingliederungshilfe, die ab dem 1. Januar nicht mehr Teil des SGB 12, sondern des SGB 9 sind.