Verfassungsbeschwerde gegen Triage

27.07.2020 | AutorIn:  Oliver Tolmein | menschenundrechte.de

Für neun Mandant*innen haben wir Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt . Wir verlangen, dass der Gesetzgeber handelt, damit auch wenn es in Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie zu wenig Behandlungsplätze geben sollte, Menschen mit Behinderungen nicht benachteiligt werden.

Die Kanzlei Menschen und Rechte hat für neun Mandantinnen und Mandanten unterstützt von der Behindertenrechtsorganisation AbilityWatch e.V. Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingereicht. Die Beschwerde richtet sich gegen gesetzgeberisches Unterlassen. Es geht dabei um drohende medizinische Versorgungsengpässe in Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie: für einen solchen Fall ist gesetzlich nicht geregelt, nach welchen Kriterien die zu knappen Behandlungskapazitäten verteilt werden sollen. Dass der Gesetzgeber hier keine Regelung getroffen hat, ist auch deswegen besonders problematisch, weil mehrere medizinische Fachgesellschaften daraufhin eine Leitlinie entwickelt haben: „Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und der Intensivmedizin im Kontext der COVID-19-Pandemie - Klinisch-ethische Empfehlungen“ (federführend entwickelt von der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI)). In der Leitlinie wird einerseits betont, dass das Diskriminierungsverbot beachtet und gleiche Behandlungschancen eingeräumt werden sollen. Gleichwohl wird bei nicht ausreichenden Versorgungskapazitäten als einziges Zuteilungskriterium die „Erfolgsaussicht der Behandlung“ angeführt. Da als Kriterien für geringere Erfolgsaussichten Komorbiditäten oder auch „Gebrechlichkeit“ benannt werden, die auch Behinderungen umfassen, führte die Anwendung dieser Richtlinie zwar nicht zu einer direkten, aber eindeutig zu einer mittelbaren Benachteiligung von Menschen mit entsprechenden Behinderungen. Insbesondere gilt das für neuronale Muskelerkrankungen wie die spinale Muskelatrophie, aber auch für Herzerkrankungen, die Gesundheit und gleichzeitig die Teilhabe beeinträchtigen oder für gravierende Mehrfachbehinderungen. Diese drohenden Benachteiligungen stellen sich aus unserer Sicht für den Fall, dass sie sich verwirklichen, einen Verstoß gegen das Verbot der Benachteiligung wegen der Behinderung und auch gegen das Grundrecht auf Leben, auf körperliche Unversehrtheit in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot dar (Artikel 1 Absatz 1 GG, aus Artikel 2 Absätze 1 und 2, aus Artikel 3 Abs 3 Satz 2 in Verbindung mit 20 Abs 1 GG). Das Verbot der Diskriminierung setzt nicht voraus, dass mit Absicht benachteiligt wird. Rechtlich ist aus unserer Sicht maßgeblich, dass der Behandlungsanspruch von Menschen mit Behinderungen, in genau dem gleichen Maß zu berücksichtigen und zu gewähren ist, wie das bei Menschen ohne Behinderung der Fall ist – vorausgesetzt ist, dass eine intensivmedizinische Behandlung bei ihnen indiziert ist, also geboten ist und ihr Erfolg auch grundsätzlich möglich erscheint, sie also bei ausreichend vorhandenen Ressourcen durchgeführt werden würde. Es handelt sich hier nicht um einen Behandlungsanspruch zweiter Klasse, der hinter den Behandlungsanspruch eines nichtbehinderten Menschen zurücktreten müsste.

Zwar kann die Leitlinie einer medizinischen Fachgesellschaft die gesetzlichen Ansprüche auf eine lebensrettende Behandlung von Menschen nicht unwirksam machen. Ärztinnen und Ärzte können aber auch nur die Behandlungskapazitäten einsetzen, die ihnen zur Verfügung stehen. Wenn der Gesetzgeber dann keine Regelung trifft, bleibt dem medizinischen Personal nichts anderes übrig, als irgendwie zu handeln. Unter Zugrundelegung der Leitlinie wird das voraussichtlich dann diskriminierend sein. Genau deswegen hat der Gesetzgeber in einer anderen Konstellation, in der es keine ausreichenden Behandlungsmöglichkeiten gibt, ein Gesetz geschaffen, das regelt, wie die medizinische Ressourcen verteilt werden sollen (es handelt sich um das Transplantationsgesetz). Dazu ist der Gesetzgeber auch verpflichtet, denn er muss Wesentliches durch allgemeine Gesetz regeln. Die Frage, wer lebensrettende, aber zu knappe Behandlungsressourcen erhält, gehört zu den wesentlichen gesellschaftlichen und rechtlichen Fragen. Diese Auffassung vertreten unsere Mandantinnen und Mandanten, aber auch – unabhängig von ihren konkreten Positionen zu wünschenswerten Verteilungskriterien  -  viele maßgebliche Rechtswissenschaftler*innen. Nur eine gesetzliche Regelung bietet Gewähr dafür, dass die grundrechtlichen Ansprüche in ausreichendem Maße berücksichtigt werden, dass die Patient*innen ausreichende Rechtsschutzmöglichkeiten haben und dass eine solche Regelung auch für das medizinische Personal ausreichend rechtssicher ist.

Ein besonders kritischer Punkt ist, dass die S-1-Leitlinie der Fachgesellschaften zur Verteilung der knappen Ressourcen nicht nur vorsieht, dass – wenn nötig - unter mehreren (nocht) nicht behandelten Patient*innen eine Auswahl nach Erfolgsaussicht getroffen wird. Geregelt wird dort auch, dass Patient*innen, die bereits intensivmedizinisch behandelt und beamtet werden, ihren Behandlungsplatz verlieren können, wenn die Erfolgsaussichten einer neu hinzukommenden Patientin oder eines Patienten besser erscheinen. Nach Auffassung vieler (nicht aller) Strafjurist*innen ist aber die Beendigung einer lebensrettenden Behandlung durch den Arzt gegen den Willen des Patienten oder der Patientin aber ein strafbarer Totschlag durch Unterlassen.

Angesichts dessen erscheint es unverantwortlich und höchst irritierend, dass das Bundesgesundheitsministerium auf eine schriftliche Frage der Abgeordneten Corinna Rüffer nach gesetzgeberischem Handlungsbedarf zu diesen Fragen am 8. April 2020 durch den Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Gebhart geantwortet hat: „Jeder Arzt kann im Rahmen seiner Berufsausübung z.B. im Fall von Naturkatastrophen , Unglücken oder Massenunfällen im Hinblick auf die Behandlung von Patientinnen und Patienten zu einer Priorisierung – oder einer sogenannten Triage-Entscheidung gezwungen sein. (….) Gesetzgeberischer Handlungsbedarf zu diesen medizinethischen Fragen besteht nicht.“ Diese Antwort verkennt zum einen, dass es in der vorliegenden Konstellation nicht um eine unvorhersehbare, einmalige Katastrophe geht, sondern um ein absehbares, daher regulierungsfähiges und regulierungsbedürftiges, für die Betroffenen absehbar tödlich ausgehendes Auswahlproblem geht, bei dem ein gesetzlich geregelter Anspruch auf medizinisch indizierte Behandlungen negiert wird. Zum anderen verkennt die Antwort, dass es sich auch nicht um einen einmaligen Vorgang handelt, sondern dass hier von medizinischen Fachgesellschaften eine für die praktische Umsetzung konzipierte S-1-Leitlinie geschaffen worden ist, die das (Nicht-) Behandlungsgeschehen in diesem Bereich prägen wird obwohl sie gegen zumindest in einigen Fragen gegen geltendes Recht verstößt und damit beispielsweise die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer wegen ihrer Behinderung benachteiligt. Nach Auffassung aller uns bekannten juristischen Stellungnahmen zu dieser und auch schon bei früheren Epidemien und Pandemien diskutierten Problematik der Versorgung von Patientinnen und Patienten mit zu knappen Ressourcen, wird zudem das Handeln des Gesetzgebers für erforderlich gehalten. Nur so kann in einem Rechtsstaat die Beteiligung der Gesellschaft und auch der Verbände von möglicherweise betroffenen Menschen sichergestellt werden. Nur so ist auch gewährleistet, dass ein ausreichender Rechtsschutz besteht.

In der Vergangenheit hat das Bundesverfassungsgericht bei Verfassungsbeschwerden, mit denen gefordert worden ist, dass der Gesetzgeber Handeln muss, hohe Anforderungen gestellt. Wir gehen davon aus, dass in dem Fall der neun Verfassungsbeschwerdeführer*innen diese hohen Anforderungen erfüllt sind. Eine andere Möglichkeit ihr Recht sicherzustellen, dass sie im Fall einer COVID-19-Infektion gleiche Chancen erhalten wie Menschen ohne Behinderungen (also Komorbiditäten und einem medizinisch voraussichtlich als „schlechter“ beurteilten Allgemeinzustand) behandelt zu werden, haben sie nicht. Wenn der Ernstfall eingetreten ist, bleibt auch keine Zeit und besteht keine Gelegenheit mehr gegen eine dann konkrete Benachteiligung vorzugehen.

Das Verfahren hat beim Bundesverfassungsgericht das Aktenzeichen 1 BvR 1541/20.

 

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