Viel Öffentlichkeit, zu wenig Budget
23.08.2019 | | menschenundrechte.de, Aktuelles, Blog, Allgemein, Behindertenrechtskonvention, Behindertenrecht
Am 21.8.19 hat das SG Mainz über Markus Igels Anspruch auf Assistenz im Arbeitgebermodell entschieden. Die Streitpunkte in diesem seit 5 Jahre sich hinziehenden Verfahren betreffen grundsätzliche Probleme des im Gesetz nur in groben Zügen geregelten Rechts auf persönliche Assistenz im Arbeitgebermodell.
Gestern hat das Sozialgericht Mainz in vier zusammengefassten Verfahren unseres Mandanten Markus Igel über dessen Anspruch auf Assistenz im Arbeitgebermodell entschieden. Dabei ging es um Ansprüche aus den Jahren 2014 bis 2019. Die Streitpunkte in diesem seit über fünf Jahre sich dahinziehenden Verfahren betreffen grundsätzliche Probleme des im Gesetz nur in groben Zügen geregelten Rechts auf persönliche Assistenz im Arbeitgebermodell. Deswegen hat das Verfahren auch große öffentliche Aufmerksamkeit gefunden.
Markus Igel benötigt wegen seiner schweren Behinderung Rund-um-die-Uhr Assistenz. Dafür beschäftigt er mehrere Menschen, teils in Vollzeit oder Teilzeit, teils als Minijobber*innen. Sein Kostenträger, das Landesamt für Soziales, hat ihm in den letzten Jahren ein Persönliches Budget zwischen 7200 und 7800 EUR monatlich bewilligt. Tatsächlich benötigt Herr Igel allerdings mindestens 5000 bis 7500 EUR mehr im Monat. In den letzten Jahren hat er die Unterdeckung des Budgets durch drei Eilverfahren, von denen zwei bis zum Bundesverfassungsgericht geführt werden mussten, erreicht.
Im Hauptsacheverfahren vor dem Sozialgericht Mainz ging es gestern im Kern um drei Fragen:
- Hat Markus Igel Anspruch auf ein Persönliches Budget als Arbeitgeber seiner Assistent*innen oder kann der Leistungsträger ihn, wie im letzten Bescheid geschehen, zwingen auf ein (möglicherweise billigeres) Modell mit osteuropäischen Entsendekräften und Pflegediensteinsätzen umzusteigen?
- Hat Markus Igel Anspruch auf eine Budgetassistenz / ein Case-Management in Höhe von derzeit 1800 EUR, das ihn in den komplexen Fragen seines Arbeitgebermodells unterstützt und anleitet, die er behinderungsbedingt alleine nicht, noch nicht oder nur teilweise leisten kann?
- Ist es rechtmäßig, wenn der Kostenträger in einem 24 Stunden-Assistenzmodell, die Bezahlung von 5 Stunden verweigert, weil hier nur Bereitschaftsdienst geleistet würde, der nicht entlohnt werden muss?
Eine Frage, die außerdem noch erörtert wurde war:
Ist das Landesamt für Soziales als Sozialleistungsträger von Markus Igels Herkunftsort für die Kostentragung zuständig oder ist zuständiger Kostenträger der Kreis Bad Kreuznach, weil Herr Igel dort wohnt. Üblicherweise ist der Sozialleistungsträger vor Ort zuständig, wenn es aber um ein betreutes Wohnen geht, sieht das SGB 12 die Zuständigkeit des Sozialleistungsträgers des Herkunftsortes vor.
Die Entscheidung
Hier hat das Gericht entschieden, dass zumindest derzeit der Beklagte zuständig ist, da hier der Grundsatz des „leistenden Rehabilitationsträgers“ nach § 14 SGB 9 zur Anwendung kommt. Sollte das Saarland (mit in diesem Fall guten Gründen) der Auffassung sein, nicht wirklich der zuständig Rehabilitationsträger zu sein, muss es gegen Bad Kreuznach klagen. So prozessfreudig sich das Saarland gegen Herrn Igel in den letzten Jahren gezeigt hat, so wenig entschieden ist es bislang gegen seinen Status als leistender Rehaträger vorgegangen – das könnte so bleiben.
Jenseits dieser Zuständigkeitsfrage hat das Sozialgericht hat Markus Igel an einem entscheidenden Punkt Recht gegeben: er durfte auf seinem Assistenzmodell beharren. Da der Sozialleistungsträger kein konkretes, ausgereiftes Modell vorgeschlagen hat, das er als Sachleistung hätte in Anspruch nehmen können, durfte er sein selbstgewähltes Modell fortführen und hat auch Anspruch auf die Übernahme der vollen Lohnkosten seiner Assistent*innen.
Allerdings hat das Sozialgericht keinen Anlass gesehen, dem Kläger zu ermöglichen, dass er die bislang unbezahlten Dienstleistungen der Assistent*innen in der Nacht (seien sie nun bloße Bereitschaft oder faktische Assistenzleistungen wie beispielsweise lagern oder auf Toilette begleiten) bezahlen kann. Dabei hat Herr Igel anschaulich dargelegt, was das für ihn bedeutet und für welche Spannungen dieser Zwang zu unbezahlter Arbeit im Team bewirkt.
In Sachen Budgetassistenz / Case-Management ist das Gericht der Klage nur teilweise gefolgt. Für die Vergangenheit wurden die geleisteten Beiträge anerkannt. Für eine Übergangszeit von 8 Monaten ab August 2019 soll er nur noch einen Teil des Geldes – 1100 EUR statt 1800 EUR – erhalten. Danach hat er erstmal keinen Anspruch mehr auf eine entsprechende Unterstützung und Beratung (die das Gericht im Urteilstenor als „Arbeitgeberassistenz“ bezeichnet). Das Gericht hat den Beklagten allerdings verpflichtet, nach Ablauf der acht Monate den Assistenzbedarf für die Arbeitgeberassistenz neu festzustellen.
Der Beklagte hat zudem Herrn Igel die notwendigen Kosten seiner anwaltlichen Vertretung zu 2/3 zu erstatten – damit geht das Gericht davon aus, dass der Klage zu 2/3 erfolgreich war.
Bewertung der Entscheidung
Aus unserer Sicht hätte das Gericht Herrn Igel Gelder für die nachts geleisteten Assistenzleistungen zusprechen müssen. Anspruch auf Gelder für die in der Nacht geleistete Bereitschaftszeit – in der Assistent*innen in der Wohnung des Klägers zur Verfügung stehen müssen, aber nicht tatsächlich zum Einsatz kommen – steht Herrn Igel jedenfalls zu, wenn die Assistent*innen ansonsten mit Blick auf ihre gesamte Dienstzeit im Durchschnittt weniger als den gesetzlichen Mindestlohn verdienen.
Dass das Gericht die Kosten der „Arbeitgeberassistenz“ nicht in vollem Umfang zugesprochen hat, ist ebenfalls nicht nachvollziehbar. In § 29 Abs 2 SGB 9 heißt es: „Persönliche Budgets werden (…) so bemessen, dass der individuell festgestellte Bedarf gedeckt wird und die erforderliche Beratung und Unterstützung erfolgen kann.“ Die Budget- oder Arbeitgeberassistenz kann zudem auch im Rahmen des § 64f Absatz 3 SGB 12 übernommen werden, der feststellt: „Soweit die Sicherstellung der häuslichen Pflege (…) im Rahmen des Arbeitgebermodells erfolgt, sollen die angemessenen Kosten übernommen werden.“ Da zu den „angemessenen Kosten“ des Arbeitgebermodells nach der Rechtsprechung des BSG zum Beispiel auch die Kosten eines Assistenzzimmers gehören können, können im behinderungsbedingten Einzelfall auch Kosten der Verwaltung des Arbeitgebermodells in diesem Sinne „angemessen“ sein. Schließlich sind die Kosten die für die Umsetzung des Arbeitgebermodells im Rahmen des Persönlichen Budgets anfallen auch zumindest teilweise als Eingliederungshilfe-Kosten zu bewerten, wenn sie Voraussetzung dafür sind, dass überhaupt ein Arbeitgebermodell umgesetzt und damit die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft sichergestellt werden kann.
Tatsächlich fehlt es in der Rechtsprechung und der Literatur an einer eingehenden Auseinandersetzung mit dem Thema und gerichtliche Entscheidungen über Kosten für Budgetassistenz/ Case Management oder Arbeitgeberassistenz in der hier verhandelten Höhe sind – so weit ersichtlich - auch nicht veröffentlicht. Das ist aber kein Argument dagegen, dass sie erforderlich sein können und im hier konkret verhandelten Fall auch sind.
Was heißt das für andere Menschen mit Behinderungen?
Grundsätzlich muß jeder Antrag auf nach den individuellen Besonderheiten bewerten und entschieden werden. Dennoch orientieren sich Gerichte und Verwaltungen an getroffenen gerichtlichen Entscheidungen. Vor allem was das Case Management angeht, wird es das Urteil des SG Mainz nicht leichter machen. Dass der Versuch den Kläger auf osteuropäische Entsendekräfte zu verweisen gescheitert ist, ist überaus erfreulich. Die schriftliche Urteilsgründe werden für ein endgültige Bewertung der Entscheidung sehr wichtig sein.
Wie weiter?
Um die Entscheidung endgültig zu bewerten muss die schriftliche Urteilsbegründung vorliegen. Danach werden die Beteiligten – also der Beklagte und der Kläger – jeweils entscheiden müssen, ob sie in die Berufung gehen. Da ein Budget unter 11.000 EUR/Monat für die Assistenz von Herrn Igel nicht auch nicht, auch wenn es besser ist als die bislang bewilligten ca. 7200 EUR, wird er vermutlich keine andere Wahl haben.
Die Berufung wird das Landessozialgericht verhandeln. Von dort aus ist eine Revision zum Bundessozialgericht möglich. Als allerletzte Möglichkeit bliebe Herrn Igel sonst noch das Bundesverfassungsgericht.
Medien über Herrn Igel:
ZDF Mittagsmagazin (ab 38:48 Min): https://www.zdf.de/nachrichten/zdf-mittagsmagazin/zdf-mittagsmagazin-vom-22-august-2019-100.html
Saarbrücker Zeitung https://www.saarbruecker-zeitung.de/saarland/saarland-muss-markus-igel-mehr-geld-zahlen_aid-45241103
Gesellschaft für Freiheitsrechte zur Verfassungsbeschwerde: https://freiheitsrechte.org/heimzwang/
Kobinet-nachrichten: https://kobinet-nachrichten.org/2019/08/21/teilerfolg-fuer-markus-igel-mit-kuerzungen/
SWR 21.8.2019, 19:30 Uhr (ab Min 6:45 Minuten. https://www.swr.de/swraktuell/rheinland-pfalz/SWR-Aktuell-RP-Sendung-19-30-Uhr-vom-21,av-o1146374-100.html