Verfassungsgericht und Triage

14.08.2020 | AutorIn:  Kanzlei | menschenundrechte.de, Aktuelles, Allgemein, Recht Besonders, Pressemitteilungen

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 16. Juli 2020 den Antrag auf einstweilige Anordnung aus unserer Verfassungsbeschwerde zu einer drohenden Triage in Deutschland (1 BvR 1541/20) abgelehnt. Zugleich hat es festgestellt, dass die Verfassungsbeschwerde selbst nicht von vornherein unzulässig oder unbegründet ist.

Die von der Kanzlei Menschen und Rechte vertretenen neun Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer hatten beantragt, 


„dass die Bundesregierung spätestens innerhalb eines Monats nach Verkündung seines Beschlusses ein Gremium benennt, in dem vertreten sind: medizinische Expert*innen verschiedener Fachrichtungen, Menschen mit Behinderungen, die vom Deutsche Behindertenrat benannt werden, sowie vom Deutschen Bundestag benannte Vertreter. Dieses Gremium soll, bis zur Verabschiedung einer entsprechenden gesetzlichen Regelung, vorläufige Vorgehensweisen entwickeln und beschließen, wie knappe intensiv-medizinische Behandlungs-Ressourcen verteilt werden sollen, wenn im Rahmen der fortdauernden Pandemie eine kritische Behandlungssituation in Deutschland entstehen sollte.“

Gleichzeitig mit der Ablehnung hat das Bundesverfassungsgericht aber auch festgestellt, dass die Verfassungsbeschwerde selbst, die sich gegen das Untätigbleiben des Gesetzgebers in den Fragen der Triage bzw. der Verteilung möglicherweise zu knapper medizinischer Ressourcen in einer Pandemie richtet, weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet ist: 

„Die Verfassungsbeschwerde (…) wirft die Frage auf, ob und wann gesetzgeberisches Handeln in Erfüllung einer Schutzpflicht des Staates gegenüber behinderten Menschen verfassungsrechtlich geboten ist und wie weit der Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers für die Regelung konkreter medizinischer Priorisierungsentscheidungen reicht.“ 

Auch die DIVI deren S-1-Leitlinie zu „Entscheidungen über die Zuteilung intensivmedizinscher Ressourcen im Kontext der COVID-19-Pandemie - Klinisch-ethische Empfehlungen“ im Rahmen der Verfassungsbeschwerde kritisch bewertet wird, hat in einer Pressemitteilung den Ansatz in diesen Fragen eine gesetzgeberische Entscheidung herbeizuführen unterstützt. 
Rechtsanwalt Dr. Oliver Tolmein, der die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer vertritt, bewertet die Zwischenentscheidung des Bundesverfassungsgerichts daher grundsätzlich positiv: „Das Bundesverfassungsgericht hat deutlich gemacht, dass es die weitreichende Bedeutung dieser Fragen erkannt hat. Der Gesetzgeber muss hier aktiv werden und zeigen, dass er den grundlegenden Charakter des Benachteiligungsverbots für Menschen mit Behinderungen aus Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 GG erkennt, danach handelt. Er darf sich nicht einfach wegducken und darauf setzen, dass die betroffenen Menschen mit Behinderungen und die Entscheidungszwängen unterliegenden medizinischen Behandlungsteams diese Konflikte untereinander austragen.“ Er hoffe, äußert Rechtsanwalt Dr. Oliver Tolmein, dass Regierung und die parlamentarischen Parteien sich mit diesen drängenden Fragen befassen und einen Diskussionsprozess insbesondere mit Gruppen und Menschen aus der Behindertenbewegung und Ärztinnen und Ärzten führen. Auf der Homepage von Abilitywatch e.V. finden Sie weitere Informationen der Beschwerdeführenden.

Angehängt finden Sie hier die Verfassungsbeschwerde (persönliche Daten der Beschwerdeführenden wurden weitgehend weggelassen)
 

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