Erfolg beim BVerwG

02.04.2021 | AutorIn:  Kanzlei | menschenundrechte.de, Aktuelles, Blog, Allgemein, Recht Besonders, Pressemitteilungen

Das Bundesverwaltungsgericht hält Kürzungen der Conterganrenten irischer Geschädigter, die die Conterganstiftung seit 2013 vornimmt, für einen Verstoß gegen deren Grundrechte. Es hat das Verfahren, in dem wir die Geschädigten seit 2013 vertreten, deswegen dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt.

Irische Contergangeschädigte, die von der Kanzlei Menschen und Rechte vertreten werden, haben vor dem Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) in Leipzig einen wichtigen Zwischenerfolg in ihrem seit 2013 andauernden Rechtsstreit mit der Conterganstiftung erzielt. Es geht um ihre Conterganrenten, die den irischen (und manchen anderen ausländischen) Geschädigten seit Inkrafttreten des 3. Conterganstiftungs-Änderungsgesetzes nicht mehr in voller Höhe ausgezahlt werden.

Das Gesetz von 2013 sollte in erster Linie zu einer Anpassung der Conterganrenten an den schädigungsbedingte Bedarf führen. Es wurde in einer neuen Vorschrift aber auch geregelt, dass künftig Zahlungen, die „von Anderen, insbesondere von ausländischen Staaten“ wegen der Einnahme thalidomidhaltiger Präparate gezahlt werden, auf die Conterganrente angerechnet werden sollten. 

Die Republik Irland zahlt den irischen Contergangeschädigten je nach Schweregrad ihrer Schädigung auf freiwilliger Basis bereits seit 1975 Gelder um ihnen ihre schwierige Situation zu erleichtern. Die Beträge liegen heute zwischen 514 und 1100 EUR monatlich. Die Republik Irland hat ein Sozialleistungssystem, das keine umfassende medizinische und rehabilitative Versorgung im Sinne des deutschen Systems der Gesetzlichen Krankenversicherung kennt. Auch Teilhabe- und Pflegeleistungen stehen für Menschen mit Behinderungen in deutlich geringerem Maße zur Verfügung als in Deutschland.

In dem deutschen Rechtsstreit kritisieren die irischen Kläger einen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz aus Artikel 3 Absatz 1 Grundgesetz (GG) und gegen die Eigentumsgarantie (Art 14 Abs 1 GG). Während sie beim Verwaltungsgericht Köln und beim Oberverwaltungsgericht des Landes Nordrhein-Westfalen mit ihrem Vorbringen keinen Erfolg hatten, beurteilt jetzt der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts die der Anrechnung zugrunde liegende gesetzliche Regelung des Conterganstiftungsgesetzes als verfassungswidrig. In seiner Pressemitteilung schreibt es: 

"Die Ungleichbehandlung, die darin liegt, dass die genannte Personengruppe die Conterganrente nur in verminderter Höhe erhält, ist sachlich nicht gerechtfertigt, weil sie unverhältnismäßig ist. Erklärtes gesetzgeberisches Ziel der Anrechnung ist die Vermeidung von Besserstellungen durch Doppelleistungen derjenigen ausländischen Berechtigten, die wegen der Einnahme von thalidomidhaltigen Präparaten neben der Conterganrente Zahlungen von Anderen erhalten. Hierzu ist die Anrechnung jedoch weder geeignet noch angemessen, weil bereits nicht erkennbar ist, dass sie dieses Ziel erreichen kann. Sie berücksichtigt nicht Art und Umfang der den Betroffenen in den unterschiedlichen Staaten gewährten allgemeinen Sozialleistungen, ohne die die Gesamtsituation der Betroffenen nicht beurteilt und deshalb eine "Besserstellung" der ausländischen Geschädigten durch Leistungen Anderer nicht sachgerecht belegt werden kann. Zudem sind die Conterganrente und die Leistungen der ausländischen Staaten nicht vergleichbar, weil sie unterschiedliche Zwecke verfolgen und sich deshalb kategorial unterscheiden."

Deswegen hat das BVerwG das Verfahren ausgesetzt und wird dem Bundesverfassungsgericht einen Vorlagebeschluss nach Art 100 Abs 1 GG zuleiten:

"Weil das Bundesverwaltungsgericht als Fachgericht nicht befugt ist, die Verfassungswidrigkeit eines Parlamentsgesetzes selbst festzustellen, hat es das Verfahren ausgesetzt und die Frage dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorgelegt."

Finola Cassidy, die Sprecherin der Irish Thalidomide Association (ITA), begrüßt die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts:

„Dass uns zugehört wird, wie es das Bundesverwaltungsgericht hier offensichtlich getan hat, ist leider nichts, was wir irischen Contergan-Überlebenden gewohnt sind.“

Rechtsanwalt Professor Dr. Oliver Tolmein, der den irischen Kläger Prof. John Kearney in dem Verfahren vertritt,  verweist auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1976. Diese erste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hat mit Blick auf die Entschädigung der Contergan-Überlebenden festgestellt:

„Wenn der Gesetzgeber diesen Schadensbereich aus dem privatautonomen Regelungsbereich herausgenommen und die Lösung der sicherlich schwierigen Aufgaben zu einer staatlichen Angelegenheit gemacht hat, obliegt es ihm, auch in Zukunft darüber zu wachen, dass die Leistungen der Stiftung der übernommenen Verantwortung gerecht werden.“

Rechtsanwalt Tolmein kommentiert die aktuelle Situation der irischen Contergan-Überlebenden:

"Der Umgang mit den ausländischen Geschädigten, für die – wie für die deutschen Betroffenen auch – die Auszahlung der Conterganrenten längst keine volle Entschädigung, aber ein gutes Maß an Grundsicherheit sicherstellt, wird der 1976 vom Bundesverfassungsgericht geforderten Verantwortung nicht gerecht. Die Benachteiligung durch den Einbehalt eines Teils der Rente ist insbesondere vor dem Hintergrund der insgesamt nicht besonders guten Lage vieler Contergangeschädigter weltweit nicht akzeptabel. Es ist außerdem beschämend, dass 2013 die lange fällige Anpassung der Conterganrenten an die Auswirkungen der Schädigungen, genutzt wurde, unseren Mandant*innen und anderen ausländischen Geschädigten, einen Teil des Geldes gleich wieder wegzunehmen. Wenn es darauf ankommt Geld zu sparen, wäre es sinnvoller gewesen die Firma Grünenthal an ihre Verantwortung zu erinnern und sie für die erhöhten Zahlungen mit in die Pflicht zu nehmen. Das wurde nicht einmal versucht.“

Die nunmehr anstehende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über den Vorlagebschluss des BVerwG wird auch Auswirkungen auf ähnliche Verfahren haben, die derzeit von Contergangeschädigten anderer Staaten, beispielsweise Belgien und Brasilien, betrieben werden. Mit dem 3. Conterganstiftungsänderungsgesetz von 2013 wurden die Mittel der Conterganstiftung zur Erhöhung der Renten um etwa 90 Millionen EUR im Jahr aufgestockt. Die Zahlungen, die bei ausländischen Contergangeschädigten eingespart werden sollen, liegen knapp über einer Million EUR im Jahr. Die Auswirkungen der Anrechnung auf die einzelnen Geschädigten, die damit teilweise ihre medizinischen Hilfsmittel und Assistenzleistungen bezahlen müssen, sind schwerwiegend.

Die Pressemitteilung des BVerwG finden Sie hier

You can download and read our Presse Release in English

 

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